Ich bin im Moment leider so mit Arbeit überhäuft, dass ich nur gelegentlich zum Bloggen komme - sorry! Heute reicht die Zeit aber zumindest für etwas Neues aus der Kategorie "Frage und Antwort".
Vor kurzem fragte mich eine Kollegin, wie man mit dem Begründer eines Handbuchs o.ä. umgeht. Ihr Beispiel war die 10. Auflage von "Biology", ursprünglich verfasst von Neil A. Campbell
(1946-2004). Ich habe es selbst nicht in der Hand gehabt, aber die Titelseite der deutschen Ausgabe sieht vom Prinzip her so aus:
Campbell
Biologie
Reece ● Urry ● Cain ● Wasserman ● Minorsky ● Jackson
Deutsche Ausgabe herausgegeben von Jürgen J. Heinisch und Achim Paululat
Die Frage war nun, welche Beziehungskennzeichnung ein solcher Begründer bekommt.
Antwort: Bei der Überarbeitung oder Neubearbeitung eines Hand-und Lehrbuchs ist zunächst zu überlegen, ob noch dasselbe Werk vorliegt oder ein neues. Die einschlägige Stelle in RDA ist 6.27.1.5
(Adaptionen und Überarbeitungen). Wie so oft, bietet uns der Regelwerkstext aber keine wirklich wasserdichte Regel. Deshalb haben wir uns in einer Untergruppe der AG RDA, der Themengruppe Werke,
mit der Frage beschäftigt und eine Erläuterung ausgearbeitet. Nach längeren Diskussionen haben wir uns dabei bewusst für eine rein formale Herangehensweise entschieden: "Es wird immer dann ein
neues Werk angenommen, wenn sich eine Änderung beim ersten hauptverantwortlichen Verfasser ergibt. Das bloße Hinzutreten weiterer Verfasser hinter dem ersten führt hingegen nicht zu einem neuen
Werk." Wer mehr dazu wissen möchte, kann sich ein ein ausführliches Dokument dazu zu Gemüte führen.
So gilt also beispielsweise die 8. Auflage des "Bibliothekarischen Grundwissen" von 2008 als ein neues Werk, weil die Verantwortlichkeitsangabe dort nicht mehr "Rupert Hacker" lautet, sondern
"Klaus Gantert/Rupert Hacker" - Klaus Gantert ist damit der erste geistige Schöpfer.
Im "Biologie"-Beispiel war Neil Campbell zunächst der alleinige Autor. Später kam Jane B. Reece als zweitgenannte Autorin hinzu - dies führte noch nicht zu einem neuen Werk. Ab der 9. Auflage
wird jedoch Jane B. Reece als erste Autorin genannt und der mittlerweile verstorbene Campbell wird (layouttechnisch von den AutorInnen abgesetzt) als Begründer präsentiert. Ab dieser Auflage
liegt also ein neues Werk vor. [Achtung, aufgrund neuer Erkenntnisse komme ich mittlerweile zu einer anderen Lösung, siehe den Nachtrag am Ende des Blog-Artikels].
Der normierte Sucheinstieg des ersten Werks ist:
Campbell, Neil, 1946-2004. Biology
Und der des zweiten Werks ist:
Reece, Jane B., 1944-. Biology
Zwischen den beiden Werken kann man eine Beziehung anlegen. Im D-A-CH heißt es dazu: "Das Ursprungswerk sowie dessen Überarbeitungen, die als neues Werk gelten, werden gemäß 25.1 RDA als in Beziehung stehende Werke betrachtet. Die Art der Beziehung ist dabei eine "Nachfolge-Beziehung auf Werkebene" (J.2.6 RDA). Verwenden Sie hierfür die Beziehungskennzeichnungen "Ersatz von" bzw. "ersetzt durch"."
Welche Funktion hat nun Neil Campbell mit Bezug auf das Werk von Jane B. Reece? Wenn man es ganz streng sieht, ist es nur eine indirekte Beziehung: Campbell ist der geistige Schöpfer eines Werks, das in einer Beziehung zum Werk von Reece steht. Man könnte den Begründer definieren als: der geistige Schöpfer des ersten Werks in einer Kette von Werken, die durch "ersetzt durch"-Beziehungen miteinander verbunden sind. Hätten wir ein vernünftiges Datenformat, in dem sich solche Beziehungen - auch über mehrere Stufen hinweg - gut abbilden und recherchieren ließen, könnten wir es auch so umsetzen. Leider haben wir ein solches Format nicht, sondern müssen uns mit MARC herumplagen.
Aus praktischen Gründen haben wir deshalb festgelegt, dass der Begründer auch in einer direkten Beziehung zu den späteren Werken in der Werk-Kette steht. Es handelt sich dabei um eine Beziehung
auf Werkebene, jedoch nicht die zum geistigen Schöpfer. Folglich bleibt dafür nur RDA 19.3. Das ist das Element mit dem sperrigen Namen "Sonstige Person, Familie oder Körperschaft, die mit einem
Werk in Verbindung steht". Beim Anhang I.2.2 gibt es eine entsprechende Erläuterung:
Eine spezielle Beziehungskennzeichnung "Begründer" gibt es in RDA derzeit nicht. Vielleicht kommt sie aber bald, denn es gab dazu ein Proposal der British Library (6JSC/BL/27), allerdings primär mit Blick auf fortlaufende Ressourcen. Wenn es keine passende Beziehungskennzeichnung gibt, soll man eigentlich den Namen des Elements verwenden (vgl. RDA 18.5.1.3 D-A-CH Nr. 1). Bei 19.3 ist dies allerdings besonders schwierig, weil es nicht einmal einen MARC-Code dafür gibt (vgl. die Liste der "relator codes"). Man kann nur "oth" nehmen. Das steht für "other" und wird für alles benutzt, was man nicht anderswo unterbringen kann. Im SWB wird es derzeit als "Sonstige Person, Familie und Körperschaft" verbalisiert.
Man könnte übrigens bei diesem Beispiel überlegen, bei den ersten beiden Verantwortlichkeitsangaben Rollenangaben gemäß RDA 2.4.1.7 zu ergänzen, um die Verständlichkeit zu erhöhen:
[begründet von] Campbell ; [Autoren:] Reece, Urry, Cain, Wasserman, Minorsky, Jackson
Ich sehe gerade, dass in der Aufnahme für die englische Ausgabe bei der Library of Congress "Campbell" als Teil des Haupttitels erfasst wurde:
Campbell biology / Jane B. Reece, Berkeley, California, Lisa A. Urry, Mills College, Oakland, Califonia, Michael L. Cain, Bowdoin College, Brunswick, Maine, Steven A. Wasserman, University of California, San Diego, Peter V. Minorsky, Mercy College, Dobbs Ferry, New York, Robert B. Jackson, Stanford University, Stanford, California
Die von mir bevorzugte Lösung wäre das nicht. Aber man könnte evtl. für die deutsche Ausgabe einen abweichenden Titel (RDA 2.3.6) erfassen:
Campbell Biologie
Dann müsste eigentlich wirklich alles recherchierbar sein, was das Herz begehrt!
Nachtrag vom 02.11.2015: Auf diesen Blog-Beitrag hin hat sich eine sehr interessante Diskussion entsponnen (s. die Kommentare), bei der ich einiges dazugelernt habe. Nach Rücksprache mit der Kollegin, die für die Ausformulierung der Erläuterung zuständig war, soll bei Fällen wie unserem "Campbell"-Beispiel - wie von Herrn Hupperich vorgeschlagen (s. seinen Kommentar) - tatsächlich Campbell weiter als erster geistiger Schöpfer gelten, sodass wir noch beim ersten Werk sind. Die Begründung der Kollegin hat mich überzeugt: "Unsere Regelung zielte ja auf eine Entscheidung auf Basis von rein formalen Kriterien ab. (...) Wenn ich "Campbell" hier nicht als Verfasser interpretiere, bin ich m.E. schon wieder auf einer inhaltlichen Schiene, weil ich das irgendwo entnommen habe, dass jetzt ja eigentlich Mrs Reece ..."
Ich widerrufe folglich meine ursprüngliche Lösung (da ich keinen Unfehlbarkeitsanspruch habe, kann ich das zum Glück leicht machen) und behaupte das Gegenteil: Da Herr Campbell noch als erster drauf steht, nicht explizit als Nur-noch-Begründer bezeichnet wird und auch die anderen Autoren ihm gegenüber nicht hervorgehoben sind, gilt er weiterhin als hauptverantwortlicher geistiger Schöpfer - und nicht, wie ich oben erläutert hatte, als sonstige Person, die mit einem Werk in Verbindung steht. Wir sind also nach D-A-CH immer noch beim Werk mit dem normierten Sucheinstieg:
Campbell, Neil, 1946-2004. Biology
Wir sollten trotzdem bei zwei getrennten Verantwortlichkeitsangaben bleiben, um das Titelblatt adäquat abzubilden, also:
Campbell ; Reece, Urry, Cain, Wasserman, Minorsky, Jackson
Verständlicher wäre es natürlich schon, wenn man dann schreiben würde:
Campbell ; [neu bearbeitet von] Reece, Urry, Cain, Wasserman, Minorsky, Jackson
Herr Hupperich wies außerdem auf diese Stelle in der Erläuterung hin: "Ist an erster Stelle der Begründer des Werkes genannt, der nachfolgend aufgeführte Verfasser der Neubearbeitung ist jedoch
typografisch hervorgehoben, so wird ebenfalls ein neues Werk angenommen, für welches der Verfasser der Neubearbeitung als Verfasser berücksichtigt wird." Die folgende Abbildung zeigt ein solches
Beispiel, in dem zwar der ursprüngliche Autor als erster genannt ist, die späteren Bearbeiter jedoch klar hervorgehoben sind:
Auch hier wird also ein neues Werk angenommen (normierter Sucheinstieg: Umstätter, Walther, 1941-. Einführung in die Katalogkunde), ebenso wie beim Gantert-Hacker-Beispiel weiter
oben.
Ich bitte um Entschuldigung dafür, dass ich mit diesem Blog-Beitrag womöglich weniger für Klarheit als für Verwirrung gesorgt habe. Vielleicht sollte ich die Kategorie umbenennen von "Frage und Antwort" in "Frage, Antwort, Diskussion und neue Antwort"... Es ist außerdem deutlich geworden, dass die Erläuterung zum Begründer noch um einige Beispiele ergänzt werden sollte; vielleicht ist das bis zum nächsten Toolkit-Update im Februar zu leisten. Auch in die Schulungsunterlagen soll das Thema übrigens noch eingebaut werden.
Heidrun Wiesenmüller
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Markus List (Montag, 02 November 2015 09:40)
Da solche Fälle nicht so selten vorkommen, wäre es hilfreich zu wissen, wann ein Begründername Teil des Titels oder Titel wird und wann nicht. Ein anderes Beispiel wäre "Dubbel - Taschenbuch für den Maschinenbau". Jedenfalls führt die Praxis der LoC, "Campbell" zum Titel zu nehmen, dazu, dass der normierte Sucheinstieg der LoC für das Werk "Reece, Jane B. Campbell biology" lautet, im Unterschied zum normierten Sucheinstieg für das gleiche Werk in Frau Wiesenmüllers Lösung "Reece, Jane B., 1944-. Biology".
Heidrun Wiesenmüller (Montag, 02 November 2015 09:48)
Lieber Herr List,
schwierig. Kann man dafür eine klare Regel aufstellen? Ich wüsste nicht so recht, wie...
Ich fürchte, das Thema fällt - wie so vieles in RDA - in den Bereich "cataloger's judgment". Andererseits frage ich mich: Hatten wir das Problem bisher nicht genauso? Wie haben Sie es denn bisher gelöst?
Viele Grüße
Heidrun Wiesenmüller
Gerd Hupperich (Montag, 02 November 2015 11:22)
Liebe Frau Wiesenmüller, ich gebe zu, dass ich gemäß der Titelseite der deutschen Ausgabe kein neues Werk angenommen hätte. In RDA 6.27.1.5 D-A-CH lese ich: "Ist an erster Stelle der Begründer des Werkes genannt, der nachfolgend aufgeführte Verfasser der Neubearbeitung ist jedoch typografisch hervorgehoben, so wird ebenfalls ein neues Werk angenommen, für welches der Verfasser der Neubearbeitung als Verfasser berücksichtigt wird." Der Begründer Campbell steht für mich an erster Stelle (in der 1. Verantwortlichkeitsangabe), die nachfolgenden Autoren werden nicht hervorgehoben dargestellt - im Gegenteil: "Campbell" wird größer präsentiert. Warum kann ich ihn dann nicht weiterhin als den hauptverantwortlichen geistigen Schöpfer nehmen?
Heidrun Wiesenmüller (Montag, 02 November 2015 13:13)
Lieber Herr Hupperich,
ich sehe schon, das ist kniffliger als gedacht. Ich wäre hier nicht auf die Idee gekommen, dass man Campbell noch als ersten Verfasser betrachten könnte, weil es für mich zwei klar getrennte Verantwortlichkeitsangaben sind. Leider war ich an diesem Detail bei der Ausformulierung des D-A-CHs nicht beteiligt und bin jetzt unsicher, ob es wirklich intendiert gewesen sein könnte, dass ein Fall wie der vorliegende noch unter dem Begründer laufen soll. Ich frage mal bei der Kollegin nach, die diese Formulierung gemacht hat.
Heidrun Wiesenmüller (Montag, 02 November 2015 17:57)
Meine neuen Erkenntnisse habe ich in einem Nachtrag am Ende des ursprünglichen Blog-Beitrags zusammengefasst.