Neues, konsolidiertes FRBR-Modell: FRBR-LRM (Teil 3)

Hier nun der dritte Blog-Beitrag zum Draft von FRBR-LRM, der sich mit den Beziehungen beschäftigt (Teil 1: Entitäten, Teil 2: Benutzeranforderungen und Merkmale). Die Top-Level-Beziehung ist ganz allgemein: "Res" is associated with "Res" (LRM-R1) - d.h. ein Ding steht in Beziehung zu einem anderen Ding. Alle anderen Beziehungen sind speziellere Varianten davon (Draft, S. 43). Insgesamt 34 Beziehungen werden beschrieben. In der Nummerierungs-Logik von FRBR-LRM sind sie mit einem "R" (für "Relationship") markiert. Bei Bedarf können über die beschriebenen Beziehungen hinaus aber noch weitere definiert werden. Die vorgegebenen LRM-Beziehungen sind im folgenden Schaubild visualisiert (Draft, S. 60; Vergrößern durch Anklicken):

Überblick über die Beziehungen in FRBR-LRM
Überblick über die Beziehungen in FRBR-LRM

Mehrere Beziehungen können in einem Pfad ("path") kombiniert werden (Draft, S. 43): Beispielsweise ergibt sich aus der Kombination von:

  • "Agent" created "Work" (LRM-R5) und
  • eine Person" ist ein "Agent" (was aus der hierarchischen Anlage der Entitäten folgt)

 als abgeleitete Beziehung:

  • "Person" created "Work"

Man sieht hier, dass die von FRBR-LRM eingeführte hierarchische Struktur der Entitäten die Zahl der benötigten Beziehungen reduzieren kann, weil sich manches generalisieren lässt. Jedoch kann man, wenn gewünscht, auch solche "Abkürzungen" ("shortcuts") als eigenständige Beziehungen definieren.

Um einen besseren Überblick über die im Modell vorgesehenen Beziehungen zu bekommen, habe ich die auf S. 46 bis 56 definierten, jeweils mit Beispielen und Erläuterungen versehenen Beziehungen in der folgenden Tabelle aufgelistet. Sie können diese auch als PDF herunterladen. Die Beziehungen sind immer in beide Richtungen definiert. Für das Lesen von links nach rechts gilt die Bezeichnung vor dem Schrägstrich, für das Lesen von rechts nach links die Bezeichnung hinter dem Schrägstrich.

Liste der in FRBR-LRM definierten Beziehungen
Liste der in FRBR-LRM definierten Beziehungen

Wie schon gesagt, steht R1 ganz allgemein für eine Beziehung zwischen zwei beliebigen Entitäten (weil sämtliche LRM-Entitäten unter "Res" fallen). Hier kann man also bei Bedarf alles unterbringen, was nicht durch eine speziellere Beziehung abgedeckt ist, beispielsweise die Beziehung zwischen zwei verwandten Begriffen in der Sacherschließung. Merkwürdig ist allerdings das hier gegebene Beispiel "Person to time-span, e.g.: Emily Dickinson is associated with the time-span from 1830 (the year she was born) to 1886 (the year she died)". Denn für das Verhältnis von einer "Res" zu einer "Time-span" gibt es eine eigene Beziehung (R16), die man doch wohl in diesem Fall verwenden würde.

R2 bis R4 entsprechen den Primärbeziehungen aus FRBR; dieser Terminus wird jedoch in FRBR-LRM nicht mehr verwendet. Diese Beziehungen sind übrigens die einzigen, die als verpflichtend gelten (Draft, S. 43). Indirekt werden durch sie auch Geschwister-Beziehungen ("sibling relationships") zwischen mehreren zum selben Werk gehörigen Expressionen, zwischen mehreren zur selben Expression gehörigen Manifestationen bzw. zwischen mehreren zur selben Manifestation gehörigen Exemplaren definiert (Draft, S. 45f.).

Bei R5 bis R11 handelt es sich um Verantwortlichkeitsbeziehungen ("responsibility relationships") zwischen einem "Agent" und einer WEMI-Entität. Hier gibt es einen bemerkenswerten Unterschied zu FRBR: Dort war das "Erschaffen" auf die Entität Werk beschränkt - Expressionen wurden hingegen "realisiert" und Manifestationen "erstellt". In FRBR-LRM hingegen werden auch Expressionen und Manifestationen "geschaffen". Ein Übersetzer "erschafft" also die Übersetzungsexpression, ein Verlag "erschafft" eine bestimmte Manifestation. Hier wurden vermutlich Ideen aus FRBRoo übernommen. In diesem Modell gibt es u.a. ein "Publication Work" (FRBRoo, Klasse F19). Zusätzlich definiert sind im LRM-Modell außerdem noch die Distribution und die Herstellung einer Manifestation (R8 und R9), das Besitzen (R10) sowie die Veränderung eines Exemplars (R11). Unter letzteres würden z.B. das Anbringen von handschriftlichen Notizen in einem Buch, aber auch das Neubinden eines Exemplars fallen.

R12 ist die Sacherschließungsbeziehung: Ein Werk hat eine "Res" zum Thema. Wie schon im ersten Teil erläutert, folgt FRBR-LRM hier FRSAD, indem es - anders als FRBR - keinerlei Vorgaben darüber macht, wie die verwendeten Sacherschließungssysteme ein Thema definieren und strukturieren sollen.

Die allgemeine Beziehung zwischen "Res" und "Nomen" (R13) bedeutet sozusagen: Dinge haben Namen. Interessant ist, dass sie in der Kardinalität 1:M definiert ist (dasselbe Ding kann mehrere Namen haben) und nicht in der Kardinalität M:M (dasselbe Ding kann mehrere Namen haben, und derselbe Name kann mehrere Dinge bezeichnen). Darauf wird extra hingewiesen: "In general, the appellation relationship would be many-to-many, however, in the context of a particular library system, the intention is that each nomen is used in an unambiguous sense by being associated with a single res." (Draft, S. 49). Hier wird also nicht die tatsächliche Welt abgebildet, sondern eine, die sozusagen bereits bibliothekarisch überarbeitet ist. Das finde ich schon aus grundsätzlichen Erwägungen etwas problematisch. Aber auch in der praktischen Anwendung scheint mir der hier formulierte Anspruch in seiner Absolutheit schwierig: Was ist mit nicht-individualisierten Namenssätzen, die nicht für eine bestimmte Person, sondern unter Umständen für mehrere gleichnamige Personen stehen? Ein solches Konstrukt dürfte es in der schönen, neuen LRM-Welt wohl gar nicht geben.

In enger Verbindung zu R13 steht R17: Die Beziehung zwischen zwei "Nomen" (oder sollen wir besser den lateinischen Plural "Nomina" verwenden?), welche für dieselbe "Res" stehen, also Namensvarianten sind. "This is a shortcut of a fully developed path: NOMEN1 is appellation of RES + RES has appellation NOMEN2" (Draft, S. 50).

Mit R19 wird ausgedrückt, dass ein "Nomen" eine Ableitung eines anderen "Nomen" ist. Zu den Beispielen gehören "USA" vs. "United States of America" und "Bill Clinton" vs. "William Jefferson Clinton". Auch Originalschrift vs. Umschrift fällt unter diesen Typus. R19 ist m.E. eine Unterform von R17 (immer wenn R19 zutrifft, trifft automatisch auch R17 zu), worauf aber nicht explizit hingewiesen wird. Würden Varianten in unterschiedlichen Sprachen (z.B. "Albertus Magnus" vs. "Albert der Große") auch unter R19 fallen? Vermutlich nicht. Man könnte dies aber sicher als weitere Unterform von R17 definieren. Dennoch scheint es mir etwas zufällig zu sein, welche Beziehung vorgegeben wird und welche nicht.

Ich vermisse auch die früher-später-Beziehung zwischen zwei "Nomen", z.B. Geburtsname vs. Ehename. Vielleicht wurde bewusst darauf verzichtet, weil man dies auch als Kombination von mehreren Beziehungen ausdrücken könnte:

  • "Res X" hat Benennung "Nomen 1" (R13)
  • "Nomen 1" hat eine Beziehung zu "Time-span 1" (R16)
  • "Res X" hat Benennung "Nomen 2" (R13)
  • "Nomen 2" hat eine Beziehung zu "Time-span 2" (R16)

Nett, was man sich mit etwas Fantasie aus den Beziehungen so alles basteln kann!

Das führt uns nun auch direkt zu R15 und R16: Hier geht es um Beziehungen von "Res" zu "Place" bzw. zu "Time-span". Wie schon im ersten Blog-Beitrag beschrieben, hat es erhebliche Vorteile, die geografische und zeitliche Dimension - also z.B. Informationen wie Geburtsdatum, Geburtsort oder den Sitz einer Körperschaft - nicht als Merkmale zu modellieren, sondern als Beziehungen.

Bei den Beziehungen zwischen mehreren Werken, mehreren Expressionen oder mehreren Manifestationen (R21 bis R27) sind teilweise erstaunlich spezielle Beziehungen definiert. Betrachten wir als Beispiel die Manifestationen: Hier gibt es nur zwei Beziehungen, nämlich eine für die Beziehung zwischen Original und Reproduktion (R26) und eine für "alternative" Manifestationen (R27). Damit sind z.B. unterschiedliche Formate oder Ausgaben für unterschiedliche Märkte (z.B. amerikanische vs. britische Ausgabe gemeint). Man vergleiche dies nun mit RDA: Hier gibt es zunächst das RDA-Element "In Beziehung stehende Manifestation" (RDA 27.1). Auf der zweiten Hierarchieebene gibt es im Anhang J.4.2 die relativ allgemeine Beziehungskennzeichnung "Äquivalent (Manifestation)". Erst unterhalb von dieser findet man dann u.a. "Erscheint auch als" (für unterschiedliche Formate) und "Reproduktion von (Manifestation)". Die RDA-Pendants zu den beiden LRM-Beziehungen finden sich also erst auf der dritten Hierarchiestufe! Hingegen ist eine allgemeine Beziehung zwischen zwei Manifestationen nicht im System von LRM angelegt. Für ein Modell, das so viel Wert auf Generalisierung und Abstraktion legt, ist dies eigentlich erstaunlich.

Außerdem sind noch verschiedene Teil-Ganzes-Beziehungen definiert. Man findet derartige Beziehungen bei sieben der insgesamt elf LRM-Entitäten:

  • "Nomen" (R18), z.B. "Shakespeare" ist ein Teil von "William Shakespeare"

  • Werken (R20)

  • "Collective Agents" (R29), was man z.B. bei untergeordneten Körperschaften gut brauchen kann

  • Expressionen (R31)

  • Manifestationen (R32)

  • "Place" (R33), z.B. "California is part of USA"

  • "Time-span" (R34)

Dass man bei einem Menschen nicht von einer Teil-Ganzes-Beziehung sprechen mag, ist verständlich. Und weil es bei "Person" keine partitive Beziehung gibt, fehlt diese auch bei "Agent" und der Top-Level-Entität "Res". Dies kann ich noch nachvollziehen. Warum es sie allerdings auch bei "Item" nicht gibt, ist mir ein Rätsel. RDA kennt durchaus Teil-Ganzes-Beziehungen bei Exemplaren (RDA Anh. J.5.4).

Im Bereich der "Agents" gibt es - zusätzlich zur bereits genannten Teil-Ganzes-Beziehung bei "Collective Agents" (R29) - noch eine Vorgänger-Nachfolger-Beziehung zwischen zwei "Collective Agents" (R30) sowie

eine Mitgliedschafts-Beziehung zwischen "Agent" und "Collective Agent" (R28). Als Erläuterung heißt es hier: "A person may explicitly join an organization or association. A person may implicitly become a member of a family by birth, adoption, marriage, etc. A collective agent may join another collective agent as a member." (Draft, S. 54). Ich nehme an, dass die Affiliation einer Person auch unter R28 fallen würde; sicher bin ich mir aber nicht.

So, das war nun der kurze Überblick über die Beziehungen in FRBR-LRM. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich bin nicht so richtig überzeugt davon. Vieles scheint mir ein bisschen willkürlich und unausgewogen zu sein. Insbesondere auf der mittleren Ebene - nicht so generell wie R1, aber nicht so speziell wie vieles andere - vermisse ich manche sinnvolle Beziehung. Beispielsweise fände ich eine allgemeine Beziehung zwischen zwei "Agents" sehr nützlich, also: "Agent" hat eine Beziehung zu "Agent". Denn wenn man beispielsweise ausdrücken will, dass zwei Menschen miteinander verheiratet sind, gibt es dafür bei den speziellen Beziehungen nichts Passendes. Man müsste dann gleich auf die ganz abstrakte Beziehung R1 (ein Ding hat eine Beziehung zu einem anderen Ding) ausweichen. Entsprechendes gilt auch für die anderen Entitäten: Ich fände es gut, wenn es für jede davon eine allgemeine Beziehung gäbe ("Werk" hat eine Beziehung zu "Werk", "Expression" hat eine Beziehung zu "Expression", "Nomen" hat eine Beziehung zu "Nomen" etc.). Auf diese Ebene scheint man jedoch konsequent verzichtet zu haben.

Der nächste Blog-Beitrag zu FRBR-LRM wird sich mit dem schwierigen Thema der "Aggregate" beschäftigen. Und dann brauche ich vermutlich noch einen letzten Post, um einige Probleme bei der Entität "Agent" auszuführen. Ich hoffe, Ihnen hängt das Thema nicht schon zum Hals heraus...

Heidrun Wiesenmüller

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Kommentare: 4
  • #1

    JGE (Mittwoch, 09 März 2016 09:18)

    Danke für diese Darstellung. Bei der Betrachtung des Übersichtsbildes habe ich mich gefragt, ob nicht eine gewisse hierarchische Gliederung bedeutet, dass Beziehungen, die auf einer oberen Ebene möglich sind, vererbt werden müssten. Z.B. wenn ein Werk Teil eines anderen Werks sein kann, dann müsste sich das doch vererben bis hin zum Exemplar. (Bei Item fehlt mir einfach die Selbstbeziehung.)
    Meint die Entität Nomen einen "rigiden Designator" http://plato.stanford.edu/entries/rigid-designators/ ? Dann kann der "Name" nicht mehrere Dinge bezeichnen, sondern wir hätten den Fall, dass es mehrere gleichlautende, aber eben durch das, was sie bezeichnen, verschiedene Namen gibt. Die Schwierigkeit besteht aber darin, dass die Bezeichnungsrelation im FRBR-LRM-Modell durch eine Beziehung zu einer Person oder einem Agent ausgedrückt wird, während sie eigentlich eine Eigenschaft des jeweiligen Namens sein müsste. D.h. das entspricht eher dem Entitäten-Merkmal-Modell von früher, denke ich.

  • #2

    Heidrun Wiesenmüller (Mittwoch, 09 März 2016 09:51)

    Liebe/r JGE,

    Werk, Expression, Manifestation und Exemplar sind aber ja nicht hierarchisch im Sinne einer generischen Hierarchieleiter. Man vergleiche dagegen die Entitäten Agent, Person und Collective Agent. Hier sind Person und Colletive Agent spezielle Ausprägungen der Entität Agent (im Schaubild ausgedrückt durch den Pfeil mit "IsA"). Wenn die Macher von LRM gewollt hätten, dass es bei allen Entitäten eine Teil-Ganzes-Beziehung gibt, hätten sie diese m.E. bei Res ansiedeln müssen. Ich denke auch, dass die Teil-Ganzes-Beziehungen über die WEMI-Ebenen hinweg nicht immer korrespondieren. Wenn ich beispielsweise die Seiten x-y aus einem Aufsatzband herausreiße, so habe ich zwar definitiv einen Teil des Exemplars. Dieser kann aber ohne weiteres die letzten Seiten von Aufsatz A und die ersten Seiten von Aufsatz B enthalten, also Teile von zwei Werken.

    Vielen Dank für den Hinweis auf den "rigiden Designator". Das muss ich mir mal in Ruhe ansehen.

    Bei den Namen ist mir mittlerweile noch etwas aufgefallen: Offenbar werden ja auch Titel von Manifestationen als Nomen betrachtet (vgl. die Scope Notes zu LRM-A25, wo spine title" (Rückentitel) als Beispiel für die Kategorie eines Nomen angegeben ist, sowie die Ausführungen auf S. 61). Aber natürlich werden zahllose Manifestationen desselben Werks denselben Rückentitel haben. Ebenso werden bei gängigen Titeln auch Manifestationen unterschiedlicher Werke denselben Rückentitel tragen. Dasselbe gilt für die Haupttitel. In solchen Fällen werden von uns diese Titel auf der Manifestationsebene aber natürlich nicht disambiguiert (anders als Werktitel). Hier passt doch dann die Vorgabe, dass dasselbe Nomen nicht mehrere Dinge bezeichnen darf, eigentlich auch nicht, oder? Es sei denn, dass das von Ihnen beschriebene Konzept zum Tragen kommt und sich die Nomen allein dadurch unterscheiden, dass sie in den Beschreibungen unterschiedlicher Manifestationen erfasst sind.

    Fragen über Fragen...

    Viele Grüße
    Heidrun Wiesenmüller

  • #3

    Gerd Witte (Donnerstag, 23 Februar 2017 18:50)

    Sehr geehrte Frau Wiesenmüller,

    Ich musste mir jetzt sagen lassen: nach RDA D-A-CH ist das Abbilden der Expressionsebene in der Formalerschließung nicht zulässig ist.

    Ist das tatsächlich so?

    MfG
    Gerd Witte

  • #4

    Heidrun Wiesenmüller (Donnerstag, 23 Februar 2017 21:33)

    Lieber Herr Witte,

    wenn es so gesagt wurde, dann ist dasnicht richtig. Denn natürlich wird die Expressionsebene im Rahmen der zusammengesetzten Beschreibung abgebildet - u.a. durch das Erfassen des Inhaltstyps, der Sprache der Expression sowie ggf. von Personen etc. mit Beziehung zur Expression.

    Ich vermute, dass etwas anderes gemeint war: Es ist tatsächlich so, dass nach derzeitiger D-A-CH-Praxis in der Formalerschließung zwar Normdatensätze für Werke angelegt und verknüpft werden können, nicht jedoch Normdatensätze für Expressionen. Diese werden nur im Rahmen der Sacherschließung verwendet. Lesen Sie dazu am besten die einschlägige GND-Erfassungshilfe (EH-W-09, https://wiki.dnb.de/download/attachments/106927515/EH-W-09.pdf).

    Viele Grüße
    Heidrun Wiesenmüller